David und Dodo

(cr. Horst Decker homepage

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Einleitung



Eigentlich besitze ich nur eine Leidenschaft, die lasterhafte Grundzüge aufweist. Ich besuche gerne und regelmäßig Flohmärkte. Das Lasterhafte daran ist die Tatsachen, dass ein Flohmarktbesuch ohne Kauf ein Anachronismus wäre, denn natürlich geht man auf Flohmärkte, um zu kaufen. Zumindest ist der Gedanke daran immer latent. Wäre es anders, so hätte man nicht das Bedürfnis, Flohmärkte aufzusuchen.

Man hätte nicht den Sinn, mit detektivischem Gespür die ausgebreiteten Variationen von Plunder, Kitsch und billigem Hausrat nach Pretiosen und Raritäten zu durchforsten. Und da Raritäten nun einmal rar sind, ist man manchmal doch bewegt, das brennende Geld zum Leidwesen der Familie für eher Plunder auszugeben. Aber manchmal findet man eben doch Raritäten, und das alleine rechtfertigt den Aufwand, ansonsten überwiegend nutzlose und überflüssige Dinge zu erstehen.

Natürlich ist das, was man selbst als wertvoll erachtet noch lange nicht für jeden kaufenswert. Und für das Gros der Bevölkerung ist schlichtweg alles Plunder. Und das ist gut und schlecht zugleich. Schlecht, weil der Flohmarktliebhaber ständig gefordert ist, seinen Kauf zu rechtfertigen, ja zu glorifizieren, um nicht innerhalb von Familie und Freundeskreis an Ansehen zu verlieren.

Gut deshalb, weil Flohmarktverkäufer meistens auch nur normale Menschen sind und deshalb den Wert ihrer Angebote vermeintlich nicht immer richtig taxieren. Und das, was sie dann selbst mit freudiger Erleichterung als Plunder verschleudern, ist für den wahren Flohmarktliebhaber oft das Schnäppchen.


Das Fotoalbum war mir eigentlich nur deshalb besonders aufgefallen, weil es einen ungewöhnlichen, teppichartigen Einband besitzt. Natürlich interessieren mich auch Fotoalben. Kann man in diesen doch Details aus Privatleben finden, die ehrlicher als im Allgemeinen zeigen, wie Mitmenschen oder Vorfahren wirklich leben oder gelebt haben. Man stößt unverhofft auf längst verwischte Spuren der eigenen Vergangenheit, wenn man auf Fotos Dinge erkennt, die man einst so oder in ähnlicher Form selbst besessen hat, oder mit denen gar ein persönliches Erlebnis verknüpft ist.

Meistens bin ich allerdings einfach zu bequem, Fotoalben aus dem Tand herauszufischen, und belasse sie ungeprüft einem von mir unabhängigem Schicksal. Ist doch die Wahrscheinlichkeit, auf außergewöhnliches Erleben zu stoßen, äußerst gering.


Ein wahrer Flohmarktliebhaber kennt natürlich auch den Ritus des Schnäppchenkaufs. Also nehme ich erst einmal eine bescheuert normal aussehende Vase und frage die Verkäuferin nach dem Preis.

Glänzenden Blicks ob meines unerwarteten Interesses und in der Hoffnung, diesen mülltonnenverdächtigen Artikel doch noch - im Sinne des Wortes - an den Mann bringen zu können, nennt sie den Preis. Fünf Mark sind natürlich zu teuer. Vor allem, wenn man wie ich die Vase zu keinem Preis und auch nicht geschenkt haben will. Also stelle ich die Vase wortlos zurück. Die Enttäuschung ist ihr anzusehen. 'Und der Toaster', dabei zeige ich auf einen 50er-Jahre-Toaster, der schon ein echtes Sammlerstück ist. Zwanzig Mark. Das Preisniveau der Flohmarktstandbesitzerin ist also günstig. Dennoch gebe ich gute Gründe vor, den Toaster nicht zu kaufen, indem ich auf altersbedingte Mängel hinweise. Die Verkäuferin wirkt langsam resigniert und nervös. Sicher braucht sie Geld, wie die meisten ihrer Spezies. Sie bietet daher an, mir im Preis etwas entgegen zu kommen. Aber ich will nicht. Was sollte ich auch mit einem Toastermodell, das ich längst besitze?

Ich verhalte mich offensichtlich, als wolle ich gehen, weil ich den gesamten Verkaufstisch ausgelotet habe. Da fallen mir noch einige privaten Worte ein. Und während ich mit der Standbesitzerin über Belangloses spreche, blicke ich nochmals, schuldbewusst, weil sie mir sympathisch ist, und ich trotzdem noch nichts von ihr gekauft habe, über den Tisch und ziehe emotionslos und wie zum Zeitvertreib das Fotoalbum unter einer alten Lampe hervor und beginne darin zu blättern, während ich weiter mit der Frau spreche.

Nur nicht nervös werden und alle Emotionen kurz halten. Schon auf den ersten Seiten stoße ich auf einen englischen Segelflugschein mit allen zugehörigen Dokumenten. Natürlich sammle ich, seitdem ich selbst den Pilotenschein habe,Dinge aus der Geschichte der Luftfahrt, vor allem Ausweise und Abzeichen. Einen englischen Segelflugschein aus den 50er Jahren habe ich bisher natürlich nicht. Im Kopf ist das Fotoalbum gekauft.

Fotoalbum? Es handelt sich nicht wirklich um ein Fotoalbum. Es ist ein Foto-, besser ein Belegtagebuch. Das ganze Leben des ehemaligen Besitzers ist durch sicher 1000 Objekte nahtlos dokumentiert. Geburt und Ende einer großen Liebe, wie ich bei weiterem Blättern erkenne.

Die Freundin des Tagebuchschreibers ist am 18. September 1947 geboren, einen Tag nach meinem Geburtstag. Interessant. Ich hatte als junger Mann eine Freundin, die am selben Tag geboren wurde und musste damals feststellen, so unwirklich mein Leben teilweise verlaufen war, das ihrige verlief in vieler Hinsicht parallel. Gibt es eine Seelenverwandschaft zwischen uns in dieser Zeit Geborenen?

Nun, was sollte das Fotoalbum kosten? Ob acht Mark zu viel sei? 'Nein', sage ich. Bei so einem Preis finde ich es unfair zu handeln. Ob sie wisse, wie das Fotoalbum eines Engländers hier in die Wetterau, das Herz Deutschlands, käme?

Nun ja, erklärte die Verkäuferin, sie habe es selbst von einer Flohmarktkollegin übernommen, die sie auf dem Flohmarkt Sickendorf getroffen habe. Und die habe es beim Sperrmüll in Ratzeburg gefunden. Mehr wüsste sie nicht.

Sicher, sicher, das Buch weiß mehr.


David

Ein letztes Mal werde ich das Fotoalbum durchblättern, auch wenn ich damit gegen die Regeln verstoße, die ich gerade erst vor zwei Monaten nach reiflicher Reflexion meines bisherigen Lebens beschlossen hatte. Nämlich nicht mehr zurückzuschauen, denn der Blick auf das Vergangene macht depressiv, und wer depressiv wird, verliert seine Zukunft. Aber die Vergangenheit ist janusköpfig. Gefährlich für die Emotionen aber wichtig für die Realität, denn sie ist der Schlüssel hinter dessen Tür alle gemachten Fehler verbleiben, die man, um sie für die Zukunft auszuschließen, kennen muss. Gleichzeitig muss man, gerade, um vor Nachstellungen der alten Fehler sicher zu sein, diesen Schlüssel wegwerfen, denn die schlimmsten Heimsuchungen der Vergangenheit finden meist genau dann statt, wenn es einem ohnedies schlecht geht, und man sie am wenigsten gebrauchen kann, ja wenn sie gefährlich werden.

Sicher, es tut mir leid um all die vielen Bausteine meines Lebens, die ich wie bunte Schmetterlinge gesammelt habe, aber, wäge ich rational, so muss ich mich für die Zukunft entscheiden. Und die Zukunft, das ist meine Tochter Anne, der ich bisher so vieles schuldig geblieben bin.

Nachher werde ich mit Gabi zum Friedhof gehen. Dort werde ich, bevor ich mich abwende, das Buch an Dodos Grab niederlegen und mich nie wieder umdrehen.

Dodo lebt in mir weiter, und genauso, wie wir unsere Zukunft geplant hatten, so werde ich gemeinsam mit ihr in mir leben.

Unsere Zukunft liegt in einem besseren Verhältnis zu unseren Mitmenschen. Wir tun Davids Eltern unrecht, wenn wir sie an dem Maße Davids Erfahrenen messe, denn ihr Leben ist anders geprägt, und deshalb verhalten sie sich anders. Wir müssen lernen, mit anderen Augen zu schauen. Nicht mehr durch Davids verfärbten Hornhäute, sondern durch die unbeschwerten Augen Dodos. Genauso, wie wir langsam zu erkennen glauben, weshalb andere David so sehen, wie David nicht wirklich ist, müssen wir lernen zu erkennen, dass das, wie David seinen Vater gespürt hat, nur Äußerlichkeit, Stempel dessen Erziehung, aber nicht seines Vaters Wahres ist.


Warum besitzen wir kein Babyfoto von David? Sicher, es lag an dem drohenden Weltkrieg, dass sich Davids Eltern um andere Dinge sorgten als um dessen subjektiven Wünsche. David war am 11. März 1939 gesund zur Welt gekommen. Aber Europa war nicht gesund.

Zum 2. Male seit der Jahrhundertwende bedrohte Deutschland den Frieden Europas. Davids Vater sah das mit gemischten Gefühlen.

Als Sohn, als ergebener Untertan seines Landes und als glühender Patriot, hatte er genügend Gründe die Deutschen zu hassen und Ihnen zu misstrauen.

Sein eigener Vater, Davids Großvater, war Captain der Kavallerie. Als im April 1912 Offiziere als Piloten für das neu gegründete 'Royal Flying Corp' gesucht wurden, erwarb David Großvater auf eigene Kosten den Flugschein in der Pilotenschule des Flugzeugherstellers Sopwith, denn die englische Armee war, wie alle Streitkräfte damals, noch nicht in der Lage selbst Piloten auszubilden. Er bestand die Pilotenprüfung mit Bravour und wurde in die Heeresfliegerabteilung des 'RFC' übernommen. Dort beteiligte er sich maßgeblich am Aufbau der 'Central Flying School'. Am 1. August 1914 brach der 1. Weltkrieg aus, in den England am 12. April nach Ablauf seines an Deutschland und Österreich/Ungarn gerichtetes Ultimatum eintrat.

Die englische Armee besaß zu dieser Zeit gerade 48 Flugzeuge, rechnet man nicht die 54 Wasserflugzeuge der englischen Marine mit. Selbst wenn es möglich gewesen wäre, die 162 Flugzeug der verbündeten französischen Armee taktisch zu koordinieren, so besaß die deutsche Armee mit 232 Kampf-und Beobachtungsflugzeugen zu Anfang des Krieges unangefochten die Lufthoheit.

Davids Großvater organisierte im Stab des legendären Hugh Trenchards, der später als General das RFC kommandierte, die Requirierung der englischen Zivilflugzeuge und folgte ihm, als dieser im Januar 1915 als Kommandeur des 1. englischen Luftgeschwaders nach Frankreich versetzt wurde. Sein erster Einsatz erfolgte als Aufklärungsflieger in der Schlacht bei Neuve-Chapell und endete sowohl für die britische Armee, als auch für Davids Großvater tragisch. Das englische Heer nahm die neuen Kampfgefährten überhaupt nicht ernst und ignorierte alle Feuerleitzeichen, die sie von den Flugzeugen erhielten. Dadurch verfehlten die Artilleriegeschosse in überwiegender Zahl ihr vorgesehenes Ziel und die Deutschen Truppen drängten die englischen Truppen zurück.

Davids Großvater, der das Flugzeug wegen massiven Infanteriebeschuss nahe der Frontlinie hatte notlanden müssen, setzte sein Flugzeug in Brand, damit es nicht den Deutschen in die Hände fiel. Erst dann bemerkte er, dass auch er nicht unbeschadet davon gekommen war. Mehrere der Gewehrkugeln hatten sein rechtes Bein zerfetzt. Mit aller Kraft stemmte er sich aus dem offenem Cockpit seines Doppeldeckers, dessen oberes Tragwerk bereits lichterloh brannte und ließ sich auf dem Boden fallen. Dort rollte er sich aus dem Gefahrenbereich seiner Maschine, dessen Benzintank jederzeit hochgehen konnte. Er rollte direkt in die Arme einiger englischen Infanteristen, die herbeigeilt waren, als sie das notlandende Flugzeug gesehen hatten. Sie brachten Davids Großvater zurück in ein Lazarett, wo man ihm das rechte Bein amputieren musste.

Aber dieser Schicksalsschlag hatte Davids Großvater nicht gebrochen. Als 1916 heimlich die englische Panzertruppe zusammengestellt wurde, meldete sich Davids Großvater sofort. Auf Grund seiner Truppenerfahrung wurde er als Kommandant eines der neuen Tanks übernommen, die vorschnell und ohne ausreichende Versuche an die Front gebracht wurden, um den unaufhaltsam scheinenden Vormarsch der deutschen Truppen zu stoppen.

Aber es waren einfach zu wenige Panzer und ihre Technik war noch nicht ausgereift.

Von den anfangs insgesamt neunundvierzig vorhandenen Kriegsmaschinen mussten siebzehn bereits unmittelbar nach Fahrtbeginn wegen Motorschäden zurückgeschleppt werden. Von den restlichen 32 Panzern erreichten nur noch neun die nordfranzösische Frontlinie nahe des Dorf Flers. Alle anderen waren wegen technischer Mängel ausgefallen.

Dennoch war der erste Tankangriff der Kriegsgeschichte am 15. September 1916 anfangs ein voller Erfolg. Die Deutschen Truppen wichen entsetzt von diesen scheinbar unangreifbaren Ungetümen zurück. Aber dieser Effekt dauerte nicht lange. Es waren einfach zu wenig Panzer. Zu ihrem Schutz hatte man zwar einige mit Keulen und Speeren bewaffnete Zulu-Kompanien aufgewendet, die nach dem Durchstoß der Panzer die feldgrauen Soldaten aus ihren Mäuselöchern herauszutreiben sollten. Aber gegen die schweren deutschen Maschinengewehre vom Typ 08/15 hatten die afrikanischen Kolonialsoldaten ebensowenig eine Chance wie das ihnen folgende und mit Kukris (Haumessern) bewaffnete, tapfere indische Kurka-Regiment. Sie wurden einfach alle niedergemäht, so dass die englische Infanterie erst gar nicht ausrückte sondern in der Defensive blieb.

Als der Panzer von Davids Großvaters dann vollkommen hilflos aber heroisch vorwärts fuhr, weil er keinerlei Kontakt mehr zu seiner Truppe hatte und keine Alternative hierzu sah, ließen ihn die Deutschen so lange fahren, bis er aus der Schuss- und Sichtweite der englischen Artillerie war. Dann sprang ein Feldgrauer aus dem toten Winkel von hinten auf und warf eine Handgranate in die Luke.

Für die Heldentat und Ehre, dass es einer englischen Einheit als erste der Alliierten Truppen gelang, die deutsche Frontlinie zu durchbrechen, erhielt Davids Großvater postum das Victoria-Kreuz. Das war Heiligtum und Verpflichtung zugleich für Davids Vater.

Aber den Verlust seines Vaters sah Davids Vater nicht nur negativ. Immerhin hatte die deutsche Kriegslust seiner Familie indirekt große Ehre und den höchsten Orden des englischen Königreiches eingebracht.

Auch in anderer Hinsicht waren seine Gefühle für Deutschland durchaus gemischt. Ja er brachte den Krauts sogar teilweise eine gewissen Sympathie entgegen. Nicht nur, dass es ihrem Hitler in kürzester Zeit gelungen war, seine hunnische Barbarenhorde in den Griff zu bekommen. Er stemmte sich auch mit aller Gewalt gegen den aus dem Osten einströmenden Einfluss des Kommunismus. Die Folgen für die Wirtschaftssysteme Europas und der USA waren nicht auszudenken, wenn der kommunistische Funke ungehindert weiter zündeln konnte.

In Amerika war es bereits 1934 zu den ersten Streiks um die 34-Stundenwoche bei vollem Lohnausgleich gekommen. Im gleichen Jahr begannen in Spanien die von den Kommunisten geschürten Unruhen, die Mitte 1936 schließlich nach einem fast dreijährigen Bürgerkrieg endeten. Hier hatte Hitler gezeigt, wie man solche Dinge regelt.

Hitler schien das ideale Bollwerk gegen den Kommunismus zu sein. Dieser Grund rechtfertigte sogar eine gewisse heimliche Unterstützung seines Systems, wenn das dazu führen konnte, den Kommunismus wieder zurückzudrängen, ja zu vernichten.

Folgerichtig erkannte England die Wiedereingliederung Österreichs an das Deutsche Reich vom 13. März 1938 in weniger als 3 Wochen diplomatisch an. Acht Tage bevor die deutsche und österreichische Bevölkerung selbst darüber abstimmen durfte. Weitete Hitler doch dadurch seinen Einfluss nach Osten aus. Auch dem Anschluss der Tschechoslowakei an das Deutsche Reich stimmte England am 29. September 1938 auf der Münchner Konferenz zu, wenn auch hier schon das Motiv hinzukam, anbetrachts der kompromisslosen Haltung Hitlers einen möglichen Krieg zu vermeiden. Nun ging es Schlag auf Schlag. Am 23. März 1939 marschierte die Deutsche Wehrmacht in Litauen ein und besetzte das Memelgebiet mit ausdrücklicher Billigung der englischen Regierung.

All das bestimmte die familiäre Situation zum Zeitpunkt von Davids Geburt. Die Royal-Air-Force-Einheit seines Vaters war wie alle Truppenteile Westeuropas in Alarmbereitschaft versetzt worden, während Hitler und Mussolini den Sieg über die Republik Spanien feierten und den Stahlpakt schmiedeten.

Kurz darauf wurde Davids Vater nach Nordirland versetzt, da die Irische Republikanische Armee IRA seit Januar 1939 mit heimlicher Waffenhilfe Deutschlands versuchte, die englische Regierung zum Rückzug aus diesem Gebiet zu zwingen, und ihrer Forderung mit mehr als 120 Bomben- und Terroranschlägen Nachdruck verliehen hatte.

In dieser Zeit wurde David geboren.
Bevor der Krieg am 8. Mai 1945 zu Ende war, kannte er seinen Vater nur von heroischen Fotos, die dieser von Vorkriegseinsätzen aus Indien und Nordafrika nach Hause geschickt hatte. David lebte alleine mit seiner Mutter Anne in einer Offiziersiedlung am Rande Londons.

Zwar hatte seine Mutter einen Kasernenbediensteten gebeten, ein Foto von David zu machen. Aber das fertige Bild schickte sie dann zu seinem Vater, der, wie David wusste, es noch heute in seiner Brieftasche bei sich trug.


Dieses Foto, das einzige Bild, dass David als Baby oder Kleinkind zeigt, hat sein Vater nie aus der Hand gegeben. Es begleitet ihn seit der Mobilmachung seiner Bombereinheit.

Bereits drei Tage nach dem Beginn des Blitzkriegs der Wehrmacht, flog sein Vater am 4. September 1939 mit einem Lancaster-Bomber einen Angriff auf die Städte Wilhelmshaven und Cuxhaven. Bereits am 6. Oktober stand die westliche Welt vor vollendeten Tatsachen und sah zu, wie Hitler und Stalin das mit England und Frankreich verbündetet Polen unter sich aufteilten, genau wie sie es am 23. August 1939 auf der Moskauer Konferenz beschlossen hatten.

Wie hätte England auch reagieren sollen. Beim Polenfeldzug waren Hitler und Stalin Verbündete gegen Polen. England hatte zwar mit dem kleinen und schwachen Polen ein Schutzabkommen,an die starke und politisch bedeutende Sowjetunion band sie aber ein nicht minder wichtiger Militärpakt. Schwerwiegender war noch, es unterhielt lukrative Wirtschaftsbeziehungen zum kommunistischem Reich, die im Interesse der Volkswirtschaft nicht gefährdet werden durften.

Stalin hatte sich nämlich verpflichtet, seine Waffen für die Aufrüstung seiner Armee aus England zu beziehen und diese mit enormen Lieferungen an sibirischem Holz auszugleichen, die England wiederum dringend zur Abdeckung des Energiebedarfs seiner Rüstungsindustrie benötigte.

Da alles, was die kriegswichtige englische Luftwaffe betraf, einer besonderen Geheimhaltung unterlag, hatten David und seine Mutter bis 1942 nichts mehr von Davids Vater gehört. Dann kam plötzlich eine Nachricht des internationalen Roten Kreuzes, aus der hervorging, dass sich Davids Vater im deutschen Kriegsgefangenenlager Colditz zwischen Leipzig und Chemnitz befand. Insofern hatte Davids Vater es noch gut, denn das mit 1800 alliierten Offizieren belegte Gefangenenlager war ein deutsches Vorzeigelager und wurde von schweizer Diplomaten regelmäßig auf Einhaltung der Genfer Konvention und Haager Landkriegsordnung überprüft.

Davids Vater hatte es in vieler Hinsicht sogar besser, als seine Landleute und Kammeraden.

Wirklich schlecht ging es ihm erst, nachdem die Amerikaner Colditz am 15. April 1945 besetzten und alle Lagerinsassen freiließen. Zuvor wurden sie allerdings tagelang von amerikanischen und englischen Geheimdienstmitarbeitern verhört. Im Falle Davids Vaters ging es immer um die gleiche Frage. Aus dem mehr als 700 Jahre alten Schloß Colditz wurden fast 300 Ausbruchsversuche unternommen und alleine fünf bis zu 44 Meter lange Tunnel unter den Mauern hindurch gegraben. Aber bis auf ca. 30 Offiziere, denen die Flucht gelang, scheiterten mit ihrem Vorhaben, - vermutlich an einem Informanten der Deutschen.

Irgendwie war der Verdacht auf Davids Vater gefallen. Als ein Indiz wurde gesehen, dass er zu den ältesten Insassen des Lagers gehörte und deshalb gute Kontakte zu den deutschen Wachen unterhielt. Logischerweise musste der Verräter jemand sein, der von Anfang an im Lager war,denn vieles sprach dafür, dass die Deutschen von Anfang an Tipps erhielten.

Dann war da noch die Sache mit dem Gleitflugzeug, das englische RAF Piloten heimlich auf dem Dachboden des Schlosses angefertigt hatten. Eine große Wanne mit Steinen aus dem Mauerwerk des Schlosses war durch ein Seil mit dem Flugzeug verbunden. Sie sollte vom Dach gestoßen werden. Die Fallenergie der Steinladung sollte das Flugzeug mit einem Ruck über die Befestigungsmauer und außerhalb des Schussbereichs der Wachen katapultieren. Als Davids Vater nun unmittelbar vor dem geplanten nächtlichen Start einen der letzten notwendigen Steine die steilen Treppenstufen hinaufschleppte, glitt ihm - schon an der obersten Stufe angekommen - der große Steinquarder aus den Händen und polterte mit lautem Getöse in den Hof des Schlosses. Daraufhin durchsuchten die Deutschen den entsprechenden Gebäudekomplex und entdeckten den Ausbruchversuch. Viele Kameraden Davids Vaters waren überzeugt, dass es kein Zufall oder Missgeschick war. Und ebenso dachten auch die amerikanischen und englischen Ermittler. Schließlich legte man Davids Vater nahe, freiwillig aus dem Armeedienst auszuscheiden, womit man dann von weiteren Untersuchungen absehen wollte. Diesen Rat befolgte Davids Vater und wurde Versicherungsvertreter. Aber er hasste seinen neuen Beruf sein ganzes Leben lang, und dafür, sowie für die Schmach einer praktisch unehrenhaften Entlassung aus dem Armeedienst, machte er alleine die Deutschen verantwortlich.




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