David und Dodo

(cr. Horst Decker - homepage

Mein Leben


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Womit beginnt ein Leben? Nicht mit der Geburt, wie man spontan denken mag, sondern nicht anders als in meinem Album, mit der ersten Beachtung, die einem noch jungen Menschen von außerhalb der Familie zuteil wird. Mit dem ersten Respekt, den man von dem Staat, in den man ohne Zutun hineingeboren wurde, durch ein namentliches Anschreiben erwiesen bekommt. In meinem Falle war dies, als ich Mitte Mai 1940 gerade etwas mehr als ein Jahr alt war, die Aufforderung, mich zwecks Ausstellung eines Passes registrieren zu lassen.

Die Ursache, dass mir so frühe amtliche Aufmerksamkeit widerfuhr lag in der Entwicklung des 2. Weltkriegs, der am 1. September 1939 mit dem deutschen Einmarsch in Polen begonnen hatte. Am 3. September hatten daraufhin Frankreich und England Deutschland den Krieg erklärt. Dieser Kriegserklärung schlossen sich Marokko, Irak, die Südafrikanische Union und Kanada an. Bereits am 4. September bombardierten englische Piloten, darunter mein Vater, die deutschen Städte Wilhelmshaven und Cuxhaven. Am 6. September verhängte England eine Seeblockade über Deutschland. Am 27 September kapitulierte Polen. Noch sind Deutschland und die Sowjetunion Verbündete und teilen Polen gemäß ihres Moskauer Abkommens vom 23. August 1939 unter sich auf.

An der deutschen Westfront war es zu diesem Zeitpunkt noch relativ ruhig. England hatte zwar eine Truppe von 158.000 Mann nach Frankreich verlegt, aber noch findet der Kampf zwischen Deutschland und England überwiegend als Seekrieg statt. Aber auch hier sind die deutschen Erfolge kaum zu übersehen. Überall sind deutsche U-Boote, denen England kaum etwas entgegen zu setzen hat. Neben vielen Handelsschiffen, war es der deutschen Seekriegsführung bereits gelungen, den Flugzeugträger 'Courageous' und das Schlachtschiff 'Royal Oak' zu versenken, was die jahrhundertalte englische Vorstellung einer unbesiegbaren Seemacht in demoralisierender Weise zerrüttete.

Auch die deutsche Luftüberlegenheit war erdrückend.

Hingegen ist die Royal-Air-Force eher glücklos. Bei ihrem Bomberangriff auf Wilhelmshaven am 18. Dezember konnte die deutsche Luftabwehr vierunddreißig der Wellington und Lancaster-Bomber abschießen. Darunter war auch das Flugzeug seines Vaters, der noch die Möglichkeit hatte, sich mit einem Fallschirm aus dem brennenden Flugzeug zu retten. Er geriet in deutsche Gefangenschaft.

Aber sein Vater sprach nie darüber. Niemals hatte er auch nur ein Wort darüber verloren, was er in der Zeit 1939 bis 1945 erlebt hatte. Diese Zeit schien für ihn einfach ausradiert. David war daher bezüglich des Vorlebens seines Vaters vollständig auf die Interpretation bruchstückhafter Bemerkungen und auf Spekulationen angewiesen. Was immer sein Vater erlebt hatte, es hatte ihn aufs äußerste traumatisiert und zu einem lebensunfähigen Menschen gemacht.

Bezüglich der Kriegsentwicklung überschlugen sich nun die Ereignisse. Russland griff Finnland an, worauf England und Frankreich planten, Finnland zur Hilfe zu kommen und von Norwegen und Schweden Durchmarschsrechte verlangten. Schweden und Norwegen erklären sich allerdings neutral. Kanada verlegte seine ersten Luftwaffeneinheiten nach England. Aber das Schicksal Finnlands war vorerst besiegelt. Am 12. März 1940 kapitulierte es vor der Sowjetunion.

Am 16. März flog die deutsche Luftwaffe ihre ersten Angriffe gegen England. Italien machte mobil. Am 9. April besetzten deutsche Truppen ohne Kriegserklärung Dänemark und Norwegen und kamen damit einem englisch-französischen Kontingent genau 5 Tage zuvor. Dafür besetzten englische Truppen am 9. Mai 1940 die Faröer-Inseln und Island, um den Deutschen zuvorzukommen. Am 10. Mai überrannten deutsche Truppen die neutralen Länder Holland und Belgien.

England musste sich auf eine mögliche Besetzung durch deutsche Truppen vorbereiten. Am 12. Mai ließ die Englische Regierung daher alle deutschstämmigen Staatsbürger verhaften und internieren, um zu verhindern, dass sich diese angreifenden deutschen Einheiten anschlossen. Eine ähnliche Maßnahme betraf alle englischen Sympathisanten der NS-Bewegung. Ein Notstandsrecht wurde verabschiedet und alle Bürger wurden aufgefordert, sich registrieren zu lassen, damit sie sich bei Verletzung oder Tötung durch Luftangriffe oder bei Versprengung durch Kriegswirren ausweisen, bzw. identifiziert werden konnten. So kam er als gerade einjähriges Kind zu einem Pass.

Nachdem sein Vater aus der Armee entlassen worden war und mit Familie das Wohnheim der Armee verlassen musste, wurde das Anschriftsfeld im Pass amtlich mit der neuen Adresse überklebt. Später zogen sie nochmals um, und das Adressfeld wurde noch einmal überklebt.


Schon auf dem ersten Foto ist sie zu finden, Cathy. Wie sehr sollte sein Schicksal noch durch sie bestimmt werden. Das Bild wurde an seinem sechsten Geburtstag aufgenommen.

Der entsetzliche Krieg war gerade 17 Tage zuvor, am 8. Mai 1945 beendet worden. Sein Vater war noch nicht zurückgekehrt. Dennoch oder gerade deshalb wurde ausgelassen gefeiert, denn der Freiraum der Träume war noch unbegrenzt. Ja, wenn er - so weit es erinnerungsmöglich ist - zurückdachte, war es seine schönste Geburtstagsfeier überhaupt. Sein Land hatte den Krieg gewonnen, und die Euphorie, einem möglichen Albtraum entronnen zu sein und den Erzfeind endgültig zu Boden gerungen zu haben, war überall spürbar.

Aber Davids schönstes Geburtstagsgeschenk, so schien es damals zu sein , sie hatten am Vortag die Mitteilung erhalten, dass sein Vater den Krieg gesund und unverletzt überstanden hatte und in wenigen Tagen zurückkehren würde. Heute wusste David, sein Vater war zwar körperlich unverletzt geblieben, aber sein Seele war gefallen. Und das war schlimmer, als wenn er seinen Vater ebenso verloren hätte wie seinen Großvater, denn dann hätte ihm nur der positive Einfluss seines Vaters gefehlt. Aber vielleicht hätte seine Mutter ja auch neu geheiratet. So war sein Vater als das leibhaftige, bösartige Gespenst dessen zurückgekehrt, der einst in den Krieg gezogen war. Aber noch konnte David nicht wissen, was das für sein Leben bedeuten sollte.

Alle Kinder der Nachbarschaft waren eingeladen. Cathy war die Tochter eines Obersten des selben Royal-Air-Force Geschwaders, dem auch Davids Vater zugeteilt worden war. Sie wohnte im gleichen Wohnblock wie David. All seine jungen Gäste wohnten hier. Hier in der Offizierssiedlung der englischen Luftwaffe. Nachdem Davids Vater vermisst worden war, hatte sich Cathys Vater rührend um ihn und seine Mutter gekümmert. Daher kannte er Cathy so lange er denken konnte. Sie war wie eine Schwester für ihn, was daran lag, dass er ihren Vater anhimmelte. Denn Mädchen interessierten ihn und seine Freunde nicht. Mit ihnen konnte man ja gar nichts spielen, und wenn man es doch tat, wurde man von seinen Kameraden ausgelacht.

Cathys Vater versicherte David immer wieder, dass es nicht mehr lange dauern könne, bis sein eigener Vater, der - weil er mit der Waffe in der Hand für seine Heimat und seine Familie eingetreten war - ein sehr viel besserer Vater sei, ihn in seine Arme schließen würde.

An diesem Geburtstag brachte Cathy nun ein besonderes Geburtstagsgeschenk, und sie war sich dessen sehr wohl bewusst. Am Vortag war nicht nur die offizielle Mitteilung über die Rückkehr seines Vaters eingegangen, sondern sein Vater hatte auch einen Geburtstagsglückwunsch über die Dienstpost der Armee geschickt. Und da Cathys Vater die Feldpostabteilung des Geschwaders leitete, hatte er den Brief einen Tag zurückgehalten und Cathy mitgegeben. Aber Cathy überreichte ihm diesen Brief nicht einfach, sondern sie trozte ihm dafür einen Kuß ab, bevor sie den Brief übereichte. Und als er noch puterrot und ganz verwirrt dastand, entriß ihm seine Mutter den Brief und vertiefte sich eine Weile darin. Er bemerkte, wie sie heimlich vor Freude weinte. Dann reichte sie ihm den Brief und sagte, 'dein Vater ist traurig, dass er nicht schon heute an deinem Geburtstag hier sein kann, denn er sehnt sich sehr nach dir und möchte gerne mit dir all die Zeit nachholen, die dir und uns dieser Krieg genommen hat.'

Lesen konnte David noch nicht, aber eines sah er sofort, so viele Worte konnten gar nicht in diesem Brief stehen, denn er war sehr sehr kurz. Viel kürzer als all die Texte, die auf den Glückwunschkarten seiner Gäste standen, und die seine Mutter mit sehr viel weniger Worten vorgelesen hatte.
Das hatte David nie vergessen, obwohl es bei weitem nicht so wichtig war, wie dieser Kuss von Cathy.


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