David und Dodo

(cr. Horst Decker - homepage

David wird Schulkind


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Das nächste Bild erinnerte David, dass er eigentlich in einer schönen Landschaft aufgewachsen war. Auch materiell hatte es ihm an nichts gefehlt. Ja ganz sicher ging es Davids Familie sogar finanziell deutlich besser, als wenn sein Vater Offizier geblieben wäre.

Nur hatte es damals nicht so empfunden. Das konnte er auch nicht, denn genau der Umstand, dass sein Vater kein Offizier mehr war, prägte alle seinerzeitigen Erfahrungen. Denn in seinem Herzen war sein Vater englischer Luftwaffen-Offizier geblieben. Und als sein Sohn sollte David keinen anderen als standesgemäßen Umgang haben.

Sie wohnten nun aber im ländlichen Raum. Der einzige Akademiker weit und breit hatte zwar Kinder, aber er wohnte fast 5 Meilen entfernt. Es war ihr Hausarzt. Gern hätte es Davids Vater gesehen, wenn David mit einem von dessen Jungen befreundet gewesen wäre, aber David hatte nicht einmal Gelegenheit sie kennenzulernen. Der Lehrer der Hauptschule war, ebenso wie der Pfarrer kinderlos. Die Kinder jenes nicht allzuweit entfernten Offiziersheims, in dem David seine frühe Kindheit verbracht hatte, durften nicht mit ihm spielen. Und David, er durfte nicht mit den Arbeiter- und Bauernkinder seiner neuen Heimat spielen.

Sein Vater war zwar ständig mit den Bauern und Arbeitern zusammen, - aus geschäftlichen Gründen zusammen -, aber wehe David blieb auch nur in der Nähe eines deren Häuser stehen.
Aber auch die Bauernkinder wollten nicht mit David spielen, der aus einer scheinbar besseren und unberührbaren Welt zu kommen schien, und dessen Vater als gebildeter, ehemaliger Offizier als Autorität galt. Sie hielten David einfach für über ihrem Stand und akzeptierten nicht nur, dass er keinen Kontakt zu ihnen hatte, sie traten ihm von sich aus mit Scheu und Abstand entgegen und hätten es nie gewagt, ihn anzusprechen.

So langweilte sich David endlos und wartete auf nichts sehnlicher, als auf den ersten Schultag, der zwangsläufig etwas Abwechslung in sein trostloses Leben bringen musste.

Sein Vater war auf die Idee gekommen, um es genau zu sagen adoptierte den Usus der Militärrekruten, die Tagesfelder eines Jahreskalenders in Streifen zu schneiden und zu einem maßbandähnlichen Kalendarium zusammenzukleben. Den Tag von Davids Einschulung hatte er dick rot umrandet. Dieses Maßband hingt er in seinem Büro auf.

Jeden Tag nach dem Lunch meldete er sich in sein Büro ab und forderte David mit einem tiefen Blick auf seine Armbanduhr auf, in fünf Minuten nachzukommen. Kam David zu früh, so blieb die Tür so lange verschlossen, bis auf die Sekunde genau fünf Minuten verstrichen waren. Dann kam sein Vater kurz heraus, um zu sagen, dass die Parade abgesagt sei.

Kam David allerdings zu spät, so blieb die Tür verschlossen und sein Vater rief ihn exakt weitere fünf Minuten nach der verspäteten Ankunft zu sich. In ziviler Kleidung, denn sein Vater verließ sein Reich nie in Uniform, hielt er ihm vor seinem Büro immer den gleichen Vortrag. Nämlich welche Konsequenz es für ihn als Flieger gehabt hätte, wäre er nicht exakt und sekundengenau nach der Uhr geflogen. Dann erklärte er zum wiederholten Male das Prinzip der Koppelnavigation in Verbindung mit dem englischen Radarleitsystem 'Bumerang', auf dem die gesamte Nacht-Navigation der englischen Bomber basierte. Das Prinzip war, dass die Bomber Deutschland auf einem Radar-Leitstrahl überflogen, um dann sekundengenau nach vorgerechneter Zeit nach rechts abzudrehen, um sich nach weiteren exakt bemessenen Sekunden genau über der anvisierten deutschen Stadt zu befinden. Eine Sekunde zu viel oder zu wenig konnte nicht nur kriegsentscheidende Konsequenz haben, weil das Bombenziel nicht gefunden wurde, sondern sie konnte über Leben oder Tod der eigenen Flugzeugbesatzung entscheiden, weil man den Schutz der eigenen Flugzeugstaffel verlor.

Kam David aber pünktlich, so öffnete sein Vater die Türe und bat ihn in das Zimmer. Dann stellten sie sich beide vor dem Bildnis König Georgs VI auf, und sein Vater salutierte, indem er - wie beim Militär üblich - die Hacken zusammenschlug und den rechten Arm blitzschnell so seitlich abwinkelte, dass die Fingerspitzen der gestreckten rechten Hand mit leicht nach vorn geneigtem Handrücken an dem Rand seiner Dienstmütze zur Ruhe kamen. So blieb er eine Weile unbeweglich stehen. Dann erst nahm er seine Augen vom Bildnis seines Königs und schaute zu David hinunter.

Das erste Mal, als dieser Ritus vollzogen wurde, wird David wohl nie vergessen. Stolz stand er neben seinem Vater und hatte, in Ermangelung eines Hutes, den rechten Arm gleich seines Vaters so abgewinkelt, dass seine gestreckten Fingerspitzen sein Haar berührten.

Statt ihn zu loben tobte sein Vater vor Wut. Was David einfiele, militärisch zu grüßen, obwohl er doch kein Soldat sei? Der militärische Gruß sei nur Soldaten vorbehalten. Dann erklärte ihm der Vater, dass der militärische Gruß jahrtausend alte Tradition habe, und wenngleich es hier unterschiedliche Formen gäbe, wie z.B. den römische Gruß, den daraus abgeleitete deutsche Gruß und die von ihm gezeigte Ehrerbietung, so hätten sie immer die gleiche Wurzel, nämlich seinem Gegenüber zu zeigen, dass man mit unbewaffneter Hand, also ohne Aggressionswillen, gekommen sei. Daher müsse auch immer der Untergeordnete zuerst grüßen, weil der Gruß nicht nur die leere Hand zeige, sondern den Grüßenden auch in eine schlechtere Angriffsposition bringe. Eine Geste der Unterwerfung unter die Macht des höher Gestellten. David solle sich vorstellen, wie anders die Weltgeschichte verlaufen wäre, hätte Marcus Junius Brutus den römischen Imperator Gaius Julius Caesar mit dem von ihm gezeigten militärischen Gruß begrüßen müssen. Hätte er den Dolch links gehalten, so wäre dieser in seiner Hand sofort sichtbar gewesen. Hätte er ihn allerdings in der üblichen, rechten Angriffshand geführt, so hätte er sich die spätere Tatwaffe beim Gruß sogar selbst in die Schläfe gestoßen.

Die militärisch weniger ernst zu nehmenden Zivilisten hätten in dieser Hierarchie durch einfaches Stillstehen zu grüßen, wobei sie beide Hände mit gestreckten Armen und den Innenflächen an die seitlichen Hosennähte legten. Genauso musste David in Zukunft bei dem, - sofern er pünktlich kam -ab nun täglichen, gemeinsamen Appell stillstehen. Und David kam fast immer pünktlich. Erst, wenn er eine staatliche Uniform mit Kopfbedeckung trug, sollte sich das ändern.

Weil sich David beim ersten Appell seines Lebens erdreistet hatte militärisch zu grüßen, erklärte ihn sein Vater kurzweg für unwürdig, den ersten Tag seines Einschulungs-Maßbandes abzuschneiden. Sein Vater tat dies dann in einer förmlichen Prozedur eigenhändig. Sicher auch mit dem Hintersinn, weil er fürchtete, David könne auch hier einen formellen Fehler begehen. Dann drückte er David den akurat abgetrennten Tagesschnippsel in die Hand und trug ihm auf, diesen als wesentlichen Einschnitt in sein Leben gut zu verwahren, ansonsten würde er dies gern für ihn übernehmen. Aber es sei wichtig, dass er sich nun daran gewöhne, auch Verantwortung zu tragen.

Stolz hatte David den Abschnitt seine Mutter gezeigt. Doch die lächelte nur kurz und pflichtartig und überreichte ihm kommentarlos eine zylindriche, kuppelförmige Dose, die ihr Vater offenbar zuvor genau zu diesem Zweck gegeben hatte. Diese Dose, so entsann sich David, war wegen des kriegsbedingten Mangels an Metall aus dem Blechgehäuse eines Gasmaskenfilters hergestellt und anschließend mit bunten Blumen bemalt worden. In diese Dose wurden noch viele Maßbandabschnitte geworfen, ehe der ersehnte neue Lebensabschnitt begann.
Aber auch nach seiner Einschulung nutzte er die Dose noch lange als Schatzkästchen für seine Lebensbelege. So lange, bis er dieses Fotoalbum gekauft hatte.

Im Juli 1946 war es endlich so weit. Sein Vater hatte sich an diesem Tag extra frei genommen. Das ist später nicht mehr häufig geschehen. Zusammen mit seiner Mutter verbrachten sie seinen ersten Schultag. Im Nachhinein gesehen, passierte dabei nichts Aufregendes. Nach der Begrüßungsansprache des Schulleiters wurden Fotos gemacht, Klassenlehrer und Klassenraum vorgestellt. Dann war der erste Schultag schon vorbei, und Davids Familie ging in ein Restaurant zum Lunch. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass David ein Restaurant betreten hatte, denn das war seinerzeit nicht alltäglich.
Die Lebensmittelversorgung war in England extrem schlecht, ja noch schlechter als im besetzten Deutschland. Immer wieder betonte sein Vater, dass es eine Schande sei, dass England als kriegsgewinnende Nation wirtschaftlich noch schlechter dastand, als das zu Boden gerungene Deutschland. Das war für ihn absurd. England hatte selbst nicht mehr die Kraft, seine eigene Bevölkerung angemessen zu ernähren und musste nun die deutsche Bevölkerung in der englischen Besatzungszone mitversorgen, bzw. deren Versorgung sicherstellen. Hinzu kam, dass die Amerikaner in ihrer Besatzungszone sehr schnell erheblichen Handel mit den Deutschen betrieben, was durchaus der Versorgung, der Wirtschaft und nicht zuletzt dem Schwarzmarkt in Deutschland zugute kam, der immerhin rund 10% der Bevölkerung mit überlebensnotwendigen Nahrungsmitteln versorgte, auch wenn er im Gegensatz zu dem staatlichen Gesetzen stand.

Und was den Schwarzmarkt betraf, so kannte Davids Vater sich aus. Hatte er nicht selbst Davids Einschulungsfeier durchweg durch Lebensmittel vom schwarzen Markt finanziert und ermöglicht. Die Eltern der meisten seiner Einschulungskameraden konnten sich eine solche Feier nicht leisten.




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