Brief eines im Wehrmachtsgefängnis
München Stadelheim inhaftierten Soldaten

(es folgt der Stempel mit den Vorschriften der Standortarrestanstalt, München 19, Leonrodstr. 51)

Name: Camillo Kühles      Gef.B.Nr. 855 / Abt.55      München, den 15. August 1942



      Meine innigstgeliebte Annemarie!
Eine besonders unangenehme Nachricht war mir die Benachrich-
tigung wegen der Zwangsräumung vom Amtsgericht München der
Gerichtsvollzieherei. - Das hat mich derartig aufgeregt, daß ich voll-
kommen mit den Nerven fertig bin. Also bin ich jetzt ohne Woh-
nung, sozusagen heimatlos geworden? - Was sagt Rechtsanwalt
Dr. Kartini dazu? - Was ist dann mit Dir? Kannst Du wenigstens
noch wohnen bleiben? Meine liebe arme Annimie! Was mußt
Du Alles noch mit mir durchmachen und du bist selbst krank. In
meinem Kopf geht es um, als würden mich 10 Teufel verhämmern.
Neuralgische furchtbare Schmerzen quälen mich dauernd bei Tag
und Nacht. Kann ohne Schlafmittel oft ganze Nächte nicht schla-
fen und momentan ist mein Zustand ganz besonders fürchterlich.

O, meine liebe Annemie, wie muss ich seelisch und körperlich
leiden. - Warum kommt Kartini so lange nicht? - Ich erwar-
te ihn Tag für Tag, aber immer vergeblich. - Er trägt durch
dieses Verhalten auch noch dazu bei, dass meine Schmerzen
sich vermehren. Warum muß ich so leiden und niemand kann
mir helfen. - Bitte bespreche die Wohnungs-angelegenheit mit.
Max und er soll uns doch helfen, indem er in seiner Fabrikan-
lage unsere Möbel im äußersten Falle auf einige Zeit einstellen
läßt. Dann setze Du Dich mit den Stellen in Verbindung wegen
einer Wohnung in Elsass oder Lothringen (Colmar oder Strass-
burg). Wenn wir in Vordernburg bei Immenstadt nicht einzie-
hen können, dann kann ich auch nichts dafür und man kann uns
doch nicht mitten im Krieg auf die Straße setzen, obwohl immer
die Miete bezahlt wurde. - Was hat denn der Schlichtungs-
ausschuß beigetragen? - Ich weiß nicht, warum die Sache ab-
solut nicht funktioniert hat. - Ich bete jeden Tag zu Gott, damit
er uns nicht obdachlos machen läßt und nun muß ich neuer-
dings diese Niederlage erleben. - Ich weiß ja, daß Du Alles
wunderbar erledigst und verlasse mich ganz auf Dich, denn

ich kann ja von hier nichts dirigieren. Ich erwarte ja selbst täglich
den Bericht von Dr. Kartini. Sage ihm nur, daß ich gesundheitlich
an den Nerven sehr schlecht daran bin. Mindestens um 10 bis 15
Jahren habe ich so gealtert, so dass ich mich im Spiegel sehend ent-
setzte. Aber ich hoffe, dass Du mich nicht verlässt, denn nur
Deinethalben will ich noch weiterleben, wegen meiner bestimmt
nicht mehr. Wann darf ich Dich endlich einmal heiraten? Bitte
bespreche dies mit Kartini eingehend. - Es wäre auch für Dich
besser natürlich, besonders wegen der Wohnungsangelegenheit.
Warum lässt Max nichts hören? Kein Mensch kümmert sich
mehr um mich, da sieht man, was man noch wert ist unter den
Freunden und einstigen Gönnern. - Nicht einmal ein Almosen!
Ich freue mich schon so auf Deinen Besuch am kommenden Don-
nerstag. - Diese 10 Minuten bedeuten für mich ein kurzes Freuden-
fest; denn Du weißt, wie ich Dich liebe. Unser gemeinschaftliches
Schicksal ist so zusammen verbunden, daß letzten Endes keiner
von uns Beiden mehr allein leben kann. Nur haben wir alle
Beide so viel und großes Leid mitzumachen. Ich hoffe immer
noch, daß wir Beide doch noch einmal zusammen das ge-

meinschaftliche Eheglück geniessen können. Ach wäre ich glück-
lich. Mein zuversichtliches Vertrauen auf unser gemeinsames Wohl
ist unerschütterlich. Wer kennt mein Sehnen nach Dir? Hoffentlich
werde ich wenigstens noch einmal einigermassen gesund und kann
ich mich noch einmal erholen. Nervenkrank sein ist schrecklich.
Bitte, gehe zu Dr. Kartini und ersuche ihn, daß er sobald wie mög-
lich mich besucht, denn ich habe sehr viel mit ihm zu besprechen.
Am allermeisten möchte ich meine Gesundheit wiederhaben und
meine Pflicht bei Militär erfüllen. Hier werde ich nur immer mehr
und mehr gemütskrank. Sei so gut und mache Alles mit der
Wohnung in Ordnung. Ich baue auf Dich voll und ganz. Meine
Losung ist nur, "Du" und sonst niemand. Einmal muß es doch
mit mir wieder aufwärts gehen. - Ich möchte mich doch noch
im Staate nützlich machen, selbst wenn ich als Soldat mein
Leben einsetzen muß. - Nun mein süßes Annimiechen,
lass mich nicht zu lange ohne Lebenszeichen, denn Du weißt,
daß nur Du mein Leben bedeutest. - Nehme für heute nun-
mehr die innigsten Küsse entgegen von Deinem Dich stetslieben-
den Milomandi. - Gut Nacht - schlaf wohl! -
         

© Horst Decker


     


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