Briefkonvolut Kreuter, Lebensbedingungen Kriegsende in Wittenberg

geschrieben 25. Februar 1945 von befreundeter Unternehmerfamilie aus Wittenberg.


            Wittenberg, am 25. Februar 1945
            (abgeschickt 26.2.1945)

Meine liebe Erna!

Eigentlich wollte ich noch weiter packen
und mein Essen vorbereiten - auch sind
schon wieder Einflüge - aber ich will doch
erst Deinen Brief beantworten u. Dir herzl.
dafür danken. Alles andere materielle
tritt jetzt doch mehr in den Hintergrund.
Jeden Tag geniesse ich meine Wohnung neu
und bin bei mir selber zu Besuch. Inner-
lich löse ich mich seit Monaten von
allem. Warum soll ich verschont bleiben?
Und wenn, dann wäre ich sehr dankbar
dafür u. würde es nicht als Selbstver-
ständlichkeit hinnehmen. Vor einigen
Tagen traf ich E. v. M. wieder im Reform-
haus. Ich ging noch mit bis zum Bahn-
hof. Er sagte uns immer wieder, sollten
die Russen noch bis hierher kommen,
müsse ich weg - 10 mal lieber dem
Westen ausgeliefert sein als dem Osten.
Es werden ja fieberhaft Vorkehrungen
getroffen - aber !! Warten wir ab. Es ist
immer möglich, dass wir Kriegsgebiet werden.
Täglich, nun schon seit Wochen, kom-
men Trecks durch. Dann dauernd
Angriffe aus der Luft. Noch blieben
wir verschont. Unser Werk ist ja nicht
so wichtig, viel mehr die Bahnanlagen

und Verkehrswege. In Dresden haben
sie wieder so viel Phosphor geworfen,
es sei schauerlich dort. Diese letzte
schöne Grossstadt!
Die Mutter von E.v.M. ist nun auch
endlich von Hinterpommern zu Hause
in Blankenburg angekommen. Dort
hausen 14 Personen in 5 kl. Zimmern.
Seine Frau mit 3 Kindern, Schwägerin mit
4 Kindern, Schwiegermuttis Mutter und
einige Tanten. Er hat in seiner Ehe noch
nicht viel Glück u. Ruhe gehabt. Von
seiner Familie hat er nicht viel. Er sieht
auch elend aus u. muss muss sicher manches-
mal hungern. Näheres von meinen
Arbeitern weiss er nicht - er ist ja noch
bei Speer.
Wie weit ist Dorf Güll denn von Lich
entfernt? Lich liegt doch an der Bahnlinie.
Es freut mich, dass so viele Eurer befreundeten
Familien ihre Wohnungen behalten konnten.
Einer unserer Chemiker wurde neulich auf
dem Weg nach unserem Werk Hasenwald
b. Warburg von Tieffliegern tötlich ver-
wundet.
Es ist nur gut, dass Mutter die Gefahr nicht
so sieht - auch kann es das Alter, das
ja abstumpfen muss, sein. Gelingt bei
Guben ein Durchbruch, sind wir in
unmittelbarer Gefahr. Die Mütter mit
Kindern möchten so gerne fort. Noch
dürfen sie nicht, auch wenn sie ein Ziel
haben. Es fehlt eben überall an Trans-
portmitteln u. Ernährungsmöglichkeiten.

Die 2 Pullover hatte ich nicht mehr machen
können, es ging so schnell. Auch muss die Wolle
dann ja doch gewaschen werden. Hoffentl.
kommt alles gut an - zur Zeit bis zum
2.3. ist wohl zu hoffen zu viel gewagt.
Der Pullover für Rena ist ja sicher reizend
geworden. Ich möchte meinen vielleicht blau-
weiss schmal gestreift machen.
Das Futter habe ich Ulrichs gebracht. Ich hoffe
sie beeilen sich mit den Sachen, damit
sie wegkommen. Selber freuen sie sich ja
auch, wenn sie es raus haben.
Schon wieder Voralarm - der Drahtfunk
ist doch eine praktische Einrichtung.
Die Verwandten meiner Nachbarin haben
von Arnswalde bis Stettin 48 Stunden mit
dem Flüchtlingszug gebraucht. Mit dem
Rad würde man schneller vorwärts kommen.

Wo ist Leni denn jetzt? noch in Italien?
Unser Verwaltungsgebäude in Berlin hat auch
wieder gelitten, Frl. Pers. Zimmer kaputt.
Aber noch bleiben sie.
Heute Nachm. fahre ich zu Ru's. Ich soll bei
der Speer-Spende essen helfen.
Eben wieder Alarm - wir mussten schleunigst
runter, Jagdgeschwader kamen ganz tief über uns
rüber - ohne Voralarm, der erst gegeben wurde
als sie z. Teil weg waren. Sie werden heute wohl
noch öfters kommen, die Front ist zu nahe.
Ich erwarte die nächsten Berichte aber, dann,
wenn nötig, schicke ich noch mehr weg. Wenigstens
hat Rena dann etwas davon, wenn ich nicht
wegkommen sollte. Bei vielen Städten ist
es so gegangen. In ... an unserem Holz-
Forst haben sich 6 russische Panzer eingeigelt
u. warten auf Sprit - so war's am 20.2.
Ich werde öfters von mir hören lassen und
grüsse Euch herzlichst Deine Gertrud

© Horst Decker

(Anmerkung der Website - es ist wegen der schlechten Handschrift nicht ausgeschlossen, dass Ortsnamen falsch geschrieben sind.)