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Briefkonvolut Kreuter, Schreiben - Situation in Wittenberg gegen Kriegsende

geschrieben 24. Februar 1945 aus Wittenberg nach Dorf-Güll, wo die Familie Kreuter Unterkunft gefunden hatte.

(Nachlass 'Josef Kreuter, Farben- und Stempelfabrikant, Frankfurter Str. 131, Gießen')
Brief der Tante aus Wittenberg an Nichte im Raum Gießen.

Wittenberg, den 24. Febr. 1945

meine liebe Rena!
Gestern kam deine Karte vom 15.2. auch
für die früheren Karten danke ich dir sehr.
Ich freue mich ja immer, wenn ich von
Euch höre und noch besonders, wenn es
etwas Gutes ist. Wie schön, das Josef kam
und Ihr doch so lange zusammen sein
konntet. Und dies nahe Beisammensein
war ja wohl wieder der Vorteil Eures Exils .
So findet man in jedem Unglück auch
wieder das Glück. Und dass die Eltern
sich mit Lunkers gut verstehen, ist doch
auch schön. Weist du, in der Not lernt
man die Menschen kennen und sie
bindet zudem.
Von Milli hörte ich nichts, wir schreiben
uns ja sonst nur zu Geburtstagen. Aber ich
hatte trotzdem an sie gedacht u. vor
einigen Tagen Frl. P. gebeten, mal bei ihr
anzurufen. Mit Frl. P. verkehre ich brieflich
durch den Revisor unserer Firma. Da sind
unsere Briefe meistens nur 2 Tagen unter-
wegs. Ich will einen für Milli mitschicken
u. sobald ich Nachricht habe, schreibe ich
Euch.
Morgen - Sonntag - fahre ich wieder raus
zu Ru's, die mich so sehr gebeten haben
zu kommen. Frau Anthes freut sich

immer so und sucht jetzt besonderen Trost
bei mir. Sie hatte einen Brief von ihrem
Mann aus Thorn v. 29.1. . Kämpfe waren
damals nicht dort - sie schanzten nur.
Sie ist in grosser Sorge, aber äusserlich
sehr liebenswert, doch ein feiner Kerl.
Das Kleine ist goldig, kennt mich
genau als Tante Leckchen und freut
sich immer sehr, wenn es mich sieht.
Dann begrüssen wir uns erst mal auf
unsere eigene Weise, Es ist sehr lebhaft u.
schlau u. besonders .... Du
würdest Deine helle Freude an ihm
haben.
Herr u. Frau Dr. Ru. sind jetzt wieder in
Ordnung, heute geht Herr Ru. zum ersten
mal wieder zum Volkssturm. Frau
Ru. ist sehr aufgeregt u. in Sorge. Die
anderen Damen aus der Kolonie
machen sie ja auch verrückt. Es
wird nur von Flucht u. Packen u. dgl.
geredet. Vorgestern war ich schnell mal
da u. traf wieder eine .... Da bin ich
mal etwas deutlich geworden u. habe
ihnen gesagt, sie sollen doch klaren
Kopf behalten. L.L. war mir so dankbar
dafür, Herr Dr. auch. Man muss es ja
auch nicht schlimmer machen.

An Mutti will ich mal noch schreiben. Also lebe wohl für heute
u. sei aufs herzlichste gegrüsst von Deiner Tante Gertrud.

(dem Brief lieg ein 'halber' Briefbogen bei. )

Sie nähen augenblicklich aus Georg's
Zeltbahn Rucksäcke u. Umhängetaschen
usw. Vorsichtsmaßnahmen muss man
schon treffen - auch ich packe jetzt was,
dass ich in kürzester Zeit fort kann.
Wenn man nur wüsste, ob's noch so weit
kommt, dann würde ich noch Lebensmittel
wegschicken u. noch viel anderes.
Noch kann ich Pakete schicken. Hoffentl.
kommt das Paket zu Muttis Geb., in dem
auch noch was für dich ist, an.
L.L. ... Wohnung in Dresden ist noch
heil - bis Nr. 70 steht kein Haus mehr
in der Strasse, sie wohnt Nr. 83. Es soll
furchbar sein. Gester war ein Wagen

von uns da u. brachte einige Sachen
von ihr mit.
Noch fluten die Flüchtlinge u. Trecks
in u. durch Wittenberg und die ganze
Gegend. Sehr weit ist die Front nicht
mehr von uns entfernt. Gestern kam die
alte Tante meiner Nachbarin aus Görlitz.
In Berlin wird abends auch öfter das
Licht 2 Stunden gesperrt ohne Ankündigung.
Von jetzt ab soll es aber vorher bekannt-
gegeben werden. Jeden Abend um 9 Uhr be-
kommen sie durch den Drahtfunk
Verhaltensmaßregeln. Wir haben hier
bis jetzt noch keine Sperrstunden nur
für Gas. Was wird denn nun mit Deinem
Abitur? Gleich wird wieder Alarm sein.

© Horst Decker