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Schreiben von Gerda von der Leck aus Wittenberg an Emma Kreuter (geb. v.d.Leck)

geschrieben 18. Februar 1945 aus Wittenberg nach Dorf Güll. Beschreibt die Situation in der Stadt unmittelbar vor Besetzung durch Sowjettruppen.

(Nachlass 'Josef Kreuter, Farben- und Stempelfabrikant, Frankfurter Str. 131, Gießen')

Wittenberg, 18.2.45

Meine liebe Emma!

Zu deinem Geburtstag wünsche ich dir
mehr Glück als du im vergangenen
Jahr hattest. Das ihr vor allen Dingen
gesund bleibt und eure Heimat be-
halten könnte. Vielleicht geht ja auch
alles schneller als ihr denkt, so das
ihr bald wieder nach Gießen ziehen
könnt. Obgleich man dort ja garnicht
sicher ist vor weiteren Angriffen. Ich
kann aber verstehen, dass ihr euch
nach Hause sehnt.
Wie es hier nun mit uns wird?!! Wer
weiß es. Heute schanzte der Volkssturm
hier 2 Häuser weiter in unserer Straße,
es wurden wohl 1-Mann-Löcher u. dgl.
Hoffentl. kommt es nicht so weit.
Am Freitag morgen wurde ich plötzlich
von unserem Lager in Apollensdorf an-
gerufen. Familie Hart - früher Bomlitz -
seit 3 Jahren Leiter unseres Werkes in
Forst (Lausitz) war mit einem Treck
gekommen, hatten dort übernachtet
u. mussten nun weiterfahren nach
Klietz b. Stendal. Ich fuhr schnell hin u.
konnte noch 1 Stunde mit ihnen zus. sein.
Sie hatten nur ihre Rucksäcke u. 3 kl. Koffer

mitnehmen können. Herrn Hart war es gelungen
den Treck, der aus 1 Omnibus, 2 Krankenautos
u. 3-4 Feuerwehrautos bestand, zu mobilisieren
u. zwar in kürzester Zeit. Vorher durften sie nicht
fort, die Parteistellen erkannten die Gefahr
nicht - bis die Russen 2 km vom Werk
entfernt waren u. nur durch Sprengung
einer Brücke am Eindringen verhindert
wurden. Herr Hart konnte nicht mal mehr
nach Hause, hatte keine Wollweste, kein
Rasierzeug usw. Das Silber u.alles andere
mussten sie da lassen. Die 17 jähr. Tochter
hatte seit 14 Tagen gelegen - scharlachver-
dächtig. Ich gab ihnen noch meine
ganzen Zigaretten, sie hatten nicht eine
mehr. 15 Jahre hatten wir uns nicht gesehen.
Damals u. später waren sie nicht so nett
zu mir gewesen - u. nun konnten sie mich
ganz gut gebrauchen - das Leben ist doch
manchmal recht eigenartig.
Anfangs der Woche rief Frl. Per. mich
an - sie solle mir einen recht herzl.
Gruss von Irene v. Mühlendahl bestellen,
die jüngeren Schwestern. Wir sollten ihren
Bruder hier versuchen zu erreichen,
aus Posen geflüchtete Verwandte seien
in Berlin angekommen u. wollten
gerne 2-3 Nächte in Wittenberg oder
Reimsdorf übernachten, ob es mögl. sei.

E.v.M. der seit einer Woche wieder
hier ist, war nicht zu erweichen. Durch
ein Fernschreiben über Frl. Per. teilten wir
es mit u. boten mein Zimmer an.
Inzwischen waren die Verwandten nun
schon abgefahren - woanders hin -
u. sie bedankte sich sehr bei mir für die
Bereitwilligkeit usw. Sollte mal wieder
dieser Fall eintreten, würde er gerne darauf
zurückgreifen. Von seiner Schwester aus
Pommern hat er keine Nachricht, von
der anderen aus Schlesien auch nicht.
Seine Mutter sei noch irgendwo unter-
wegs. Man sieht hier trostlose Bilder.
Immer noch kommt ein Treck nach
dem anderen, die Schulen u. Säle
sind entweder Lazarette oder Flücht-
lingslager geworden. In der Stadt
wimmelt es von Menschen, es ist
ein ganz anderes Bild. Die Hotelzim-
mer sind von der Wehrmacht be-
schlagnahmt worden. Man sagt, es
kämen wichtige Kommandos her.
Wir aber rechnen mit Bombenan-
griffen. Von meinen Dresdner
Bekannten habe ich noch keine
Nachricht - auch L.L. Ru. weiß
noch nicht, ob ihre Wohnung steht.
Es soll dort furchbar sein - die
vielen Flüchtlinge noch dazu. An einem
Tag hatten sie 3 Terrorangriffe.
Wenn wirklich die Russen noch her
kommen sollten, womit man rechnet,
versuche ich möglichst schnell mit
dem Rad über die Elbe zu kommen.
Ich hoffe aber, dass es nicht so weit
kommt. Frau Ruöffler ist furchbar
aufgeregt, 1. die Sorge um den Schwieger-
sohn in Thorn, es kam noch keine Nach-
richt, dann nun Dresden. Lisel hat
ja kaum Sachen hier, weil sie nicht
lange bleiben möchte. Sie selber haben
keinen Menschen zu dem sie flüchten
könnten im Westen. Sie möchten so
gerne mal ein Paket mit einigen Sachen
wegschicken. Bei Euch in der Fabrik
oder im Keller habt ihr auch wohl
keinen Platz mehr?
Josephs Karte habe ich erhalten, gestern
auch Br. u. Karte von Mutter.
Ulrichs haben die Sachen aus der
Jacke schon in Arbeit genommen.
Heute Nachm. kommen LL. Ru. u. 2
andere Damen, bringen sich aber selber
zu essen mit. Man kann ja nichts
mehr bieten. Nun wünsche ich dir
nochmals viel Schönes u. Gutes u. grüße
euch alle herzlich
              deine Gertrud

© Horst Decker