Nachlass 'Josef Kreuter, Farben- und Stempelfabrikant, Frankfurter Str. 131, Gießen'

Brief von Wittenberg nach Gießen, 17. September 1944

geschrieben von Tochter an Mutter

Wittenberg , 17.9.44

Meine liebe Mama!
Für Deinen letzten Brief aus
Garding vielen Dank. Ich hatte
immer gehofft, noch mal
von Euch zu hören, aber Ihr
habt sicher genug anderes zu
tun gehabt. Ich hoffe sehr
dass Ihr inzwischen gut in
Giessen angekommen seid.
Wenn Ihr am Donnerstag reistet,
hattet Ihr ja keinen Alarm.
Ich habe jeden Tag die Luft-
lage verfolgt.
Es ist möglich, dass ich auch
noch Einquartierung bekomme.
Nach Wittenberg sollen 7-8000
Flüchtlinge vom Westen kom-
men, in den Landkreis noch
mal so viele. Jandehens
müssen 3 Zimmer hergeben
für 6 Personen, sie hoffen

nur auf 4. Bis jetzt habe ich
noch keinen Bescheid. Es
wird ja auch nie so heiss
gegessen wie gekocht. Sollte
man mich nicht verschonen,
will ichs meinem Gast so
schön wie möglich machen
und ihm helfen wo ich
kann, wenn er es zu schätzen
weiss. Vorhin habe ich ein
Paket an Ella Therwalt (Hausen)
gepackt. Sie lebt jetzt in
einem kl. Dorf bei Eberbach
am Neckar mit ihrem kl.
Sohn, dessen Koffer mit den
ganzen warmen Wintersachen
verloren gegangen ist. Nun
hat der Junge keinen Mantel
u. Ella hat selber nichts
mehr. Ich schicke ihr nun
ein Stück Filz, den ich noch
hatte, und dunkelblaue

Farbe, dass sie färben kann.
Dann noch Kleinigkeiten.
Ella hat es schwer. 2 Söhne
an der Front, einer steht
dauernd im Kampf in Russl.
der andere in Italien. Sie
selbst war jetzt eine Woche
bei ihrem Mann in Ludwigs-
hafen und machte dort
5 schwere Terrorangriffe mit.
Die I.G. ist zum größten Teil
vernichtet, mit einem An-
griff 16 Bombenteppiche
auf das Werk, wobei ihr Mann
verschüttet war. Da muss
man doch helfen.
Ich erhole mich auch wieder
etwas mehr und habe meinen
Urlaub schon fast verschmerzt,
anderes ist wichtiger und
man muss froh sein, noch
zu leben. Wir haben hier

ja so wunderbares Wetter
dass ich in der letzten Woche
nicht an Tirol denken
durfte.
Gestern und heute habe ich
etwas im Schlafen geleistet,
heute morgen wachte ich
um 1/2 10 Uhr erst auf, früh
schon mal, aber ich schlief
dann weiter, heute Nachm.
wieder 1 1/2-2 Stunden. Gestern
auch. Wir arbeiten jetzt
ja von 1/2 7 Uhr bis 1/2 6 Uhr.
Bis man zu Hause ist,
kann man nicht mehr
viel tun u. kommt fast
doch zu spät in's Bett.
Mittags bei dem herrlichen
Wetter legte ich mich immer
20 Min. in den Wald u.
schlief fest ein. Das tat so
gut, sonst hätte ich nicht
so schreiben können, man

Anmerkung: Blatt 3 fehlt, stattdessen ist ein Blatt3 eines anderen Schreibens eingefügt.

bis Montagfrüh war Frl. Psch.
hier. Wir machten es uns
sehr gemütlich und unter-
nahmen nichts weiter als
einen Kinobesuch 'Familie
Buchholz II.Teil' - ' die
Neigungsehe'. Alarm ist
immer unter Tages und
nachts. Manchmal auch
nicht. Es richtet sich
nach dem Wetter im Westen.
Am Freitag werde ich also
bei Kn's zum Geburtstag
sein.
Und immer will ich noch
an Erna u. Joseph schreiben.
Auch Rena soll schon
lange einen Brief von
mir haben. Ich möchte
ihr mal etwas länger
schreiben, ob das heute

noch geht, glaube ich nicht.
Wo ist Jost?
Schreib bald wieder, Du
wirst jetzt wohl die Haupt-
Korrespondenz nach hier
übernehmen müssen.
Herzl. Gruss
                  Deine Gertrud


Ich habe einen Hand-
schuh verloren. Hast
Du vielleicht noch Wolle
für einen neuen?
Dann schicke ich ihn
Dir. Ich ärgere mich
darüber.

Anmerkung: das dem Brief beiligende, als Nr. 3 numerierte Blatt, das aber von einem anderen Schreiben des selben Zeitraums und von der selben Absenderin stammt

Bublitz muss 6 Wochen in
Schlawe, Pommern Stollen
schippen u. hat es dabei sehr
schwer. Ihre 16 jährige Tochter
schippt in Ostpreußen
die jüngste 12 jährige ist
allein zu Hause.
Hoffentlich ist es nicht
bei Euch nötig.
Muss Milli ihre Kinder
nicht auch wieder haben?
Was macht sie? Sonst muss
sie doch sicher arbeiten.
Und wo ist Leni jetzt?
Fritz schrieb mir aus Wiesbaden.
In diesen Tagen soll ich
meine Pelzjacke bekommen,
die vom Färben zurück
kommt u. länger u. mo-
derner gemacht wird.
Ulrichs geben Pelz zu. Sie
haben Frl. Pes. Mantel auch

wieder wunderbar gereinigt
u. ganz u. gar ausgebessert.
In den nächsten Wochen
nehme ich meinen Haus-
haltsbetrag u. werde nur
stopfen u. flicken.
Meine Dresdner Bekannten
schreiben sehr oft - Frl. v.d.
Damersau wird kaum weiter
studieren können, jetzt
arbeitet sie bei Zeiss-Ikon
in Dresden an der Dreh-
bank. Wenn sie kann,
will sie mich besuchen.
Wie ist es nun mit Dir.
Du hast ja ein Attest u.
könntest reisen. Oder willst
Du jetzt erst abwarten, wie
sich die Front im Westen
aufbaut? Nun will ich
mal Joseph schreiben.
Alles Gute u. viele Grüsse
            Deine Gertrud. Grüsse!

Dein Rolf

© Horst Decker