Brief an die Mutter, 29. Sept. 1946

Wörtliche Abschrift, aus Datenschutzgründen sind die Namen unkenntlich gemacht.

Köln, d. 29.9.46

Liebe Mutter!
Meinen herzlichen Dank für Deine gutgemeinten
Glückwünsche zu meinem Geburtstage. Den beiden
Mädels geht es gesundheitlich wieder sehr gut - die
sind groß u. stark geworden - besonders H... .
T... und ich wollen auch nicht klagen. Die
viele Arbeit bleibt nicht in den Kleidern stec-
ken. Die Kinder hatten einen Riesenstrauß im
Büro aufgestellt mit eingeflochtenen '65' und
T... einen großen Blumenkorb. Dann
gab es aus wasserdichtem weißem Stoff ein Reisenecesair
so ähnlich, wie Du solche aus Wachstuch für Vater
gemacht hattest, ferner 1 Schlips, den ich mit
Tochter T... von der Einkaufsreise mitbrachte,
5 Cigarren auf T...s Karte (Anmerkung d. Websitebetreibers:
mit Hilfe der Rationierungskarte 'Raucherkarte' von T...
erworben
) durften nicht
fehlen. Einerseits war ich froh, daß das Personal
die Dummheit hat walten lassen, in dem es
nichts unternahm, wodurch ich auch jeder
Verpflichtung entbunden war. -
In der vorigen Woche hat ich als ehmaliger
P.G. (Anmerkung d. Websitebetreibers:
P.G. = Parteigenosse, Mitglied der NSDAP,
Trümmerräumdienst als Arbeitsstrafe
)
3 Tage Schutt aufladen müssen, von
7 bis 1/2 4 Uhr, um 12 Uhr gab es eine warme
Suppe mit Graupen und Fleisch - kasernen-
mäßig - gut und reichlich. 3 weitere Tage
stehen noch bevor, jeder muß 6 Tage schippen.
Wir hatten Beamte, Ärzte, Rechtsanwälte pp.
in unserer Kolonne. 20 Mann bekamen 10
Kippwagen auf Schienen laufend, so daß 2 Mann
1 Wagen hatten und dies wiederholte sich am
1 Tage 7x, am 2. Tage 6x und am 3 Tage 5x
Aufsichtsleute waren KPD und hatten im KZ
gesessen. Es war vorher vermutet, daß man

uns anpöbeln würde - aber im Gegenteil -
man nahm auf das Alter große Rücksicht und
fiel kein böses Wort. Wenn hiermit die Sühne
ihren Abschluß findet, bin ich zufrieden.
Bescheinigung der Stadt Köln für Trümmerraumdienst
22. Juli 1947 (von anderer Person)

Eine kleine Geldstrafe wird zwar noch erwartet,
kann aber nicht groß sein, denn sonst würde
sich der Steuersäckel verkleinern. Jede Maß-
nahme schädigt den 'Sieger'.
Wir sollen ab 1. Oktober 1500 Kalorien erhalten,
was sich hoffentlich gut auswirkt. Die Kohlen-
frage ist jedoch auch hier noch ungelöst.
Wir werden und können Antrag auf Sonderzulagen
stellen, um dem Personal das mitgebrachte
Essen zu wärmen. Holz sammeln wir auf
Trümmerhaufen. Augenblicklich wird unser
Geschäftshaus schräg gegenüber bis zum
Beginn des 1. Stocks abgerissen, so daß wir
dann den Laden, die Schlüsselfabrik, Lager
und Büro einrichten können, was vorher von
der Baupolizei wegen Einsturzgefahr verboten
war. Steine, Balken und Bretter haben wir
uns für das Dach gesichert, Karbidschlamm und
Sand und etwas Zement haben wir auch schon,
und 1 Ladentisch aus Eichenholz in Gegenrech-
nung bestellt. (Anmerkung d. Websitebetreibers:
ein Kauf durch Warentausch mit einem anderen
Kaufmann
) Vier große Schaufenster will
ich verkleinern und dafür eiserne Fenster mit Sprossen
einmauern lassen, wie Vater früher im Laden
hatte - also nach 60 Jahren wiederholt sich
vieles. Wenn dann eine kleine Scheibe mal
eingeworfen wird, ist's nicht so kostspielig
und schützt auch besser gegen Einbruch.
Wir müssen Tag und Nacht auf der Hut sein,
denn es wird immer wieder versucht, Ziegel-
steine zu stehlen.-

Ich habe mich politisch betätigt und war
Kommunal- und Bezirksvorsteher vom Wohlfahrts-
amt. Hatte allerdings ein Parteigerichtsverfahren
Anfang 1938 laufen, weil ich gegen Korruption
ankämpfte. Das ändert aber nichts an der Sache,
ob jemand 12 Stunden oder 12 Jahre Mitglied war.
Die Landleute (Anmerkung des Websitebetreibers:
Landleute = Bauern
) wird man hier wohl mehr steuerlich
erfassen, denn die katholische Kirche gibt auch
einen Machtfaktor ab. Den Landleuten hier
fehlt nichts, Leinen, Teppiche, Garderobe -
im Uebermaß und jetzt fordern sie Schmuck-
sachen, d.h. goldene und Edelsteine,-
Es ist schade, daß dort niemand ist, der von
G... einige Andenken holen könnte, denn
der Russe hat Privateigentum freigegeben und
Geld bis zu 200 Mark im Monat. Du darfst noch
nicht von ewiger Ruhe sprechen. Ich habe
seit 2 Jahren 2 mal mit dem Tode gekämpft und habe mir
das letzte Mal im April die Bibel genommen und
beherzige stets das Wort - 'Wen der Herr lieb hat, den
züchtigt Er - Er strafet aber einen Jeglichen, den
er annimmt.' Den Sinn dieser Worte habe ich mir
selbst zerlegt: Durch die Vertreibung aus dem Para-
dies, ist der Mensch zur Arbeit verurteilt, genießt
aber durch Gottes Liebe die Gnade, durch recht-
schaffenen Lebenswandel und ohne gegen das Natur-
gesetz zu verstoßen, sich eines langen Lebens
würdig zu zeigen. Es ist aber gestraft, wenn er
vorzeitig vom Tode abgerufen wird. Gott hat
Dir durch seine Gnade ein langes Leben geschenkt.
Du hast es verdient und wenn auch schwere Tage
bevorstehen und man an dem irdischen Glück
zu zweifeln beginnt, so braucht man nur sich
in seinem Glauben weiter bestärken, daß
man es im Leben immer richtig gemacht hat

und immer das Gute gewollt zu haben, dann
braucht man sich nicht zu fürchten. Alle Flüchtlinge
aus Osten und Süden werden durch die schwerste
Prüfung geschickt. Auch wir haben auf Trümmern
aufgebaut und sind nicht ungeduldig geworden.
Ich danke Gott, daß ich mich an den Judenverfol-
gungen nicht beteiligt hatte, obgleich ich auch
heute den Juden meide und jeden privaten
Umgang hasse. Auch dem früheren Zwang aus
der Kirche auszutreten, hatte ich mich widersetzt.
Es ist aber auch seelisch schwer, sich mit der Frau
nach Geschäftsschluß auf die Straße zu setzen
und die Ziegelsteine mit dem Hammer sauber
zu klopfen, um damit die Vorbereitungen
für den Wiederaufbau zu treffen. Ich will
den Feinden zeigen, daß ein Deutscher nicht
unterzukriegen ist. Ich bettle auch nicht um
deren Gnade, denn ich habe keinem der Feinde
etwas zu Leide getan. Ich habe nur das
getan, was ich als Deutscher jederzeit zu ver-
antworten bereit ist. Ich war deshalb National-
sozialist, weil ich Deutscher war und sozial
handelte und mich stets bemühte, dort Gutes
zu tun, wo ich es für angebracht hielt.
Wenn alle Angeklagten den Mut hätten, die
Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen,
würde Ihnen die Achtung eines jeden Deutschen
nicht versagt bleiben. Die meisten Menschen
aber wollen heute Hitler nie gewählt haben.
Heute schreien sie 'Hossiana' und morgen 'kreuzi-
ge ihn'. Es geht ja gar nicht um Hitler, sondern
um die Idee. Es wird dabei auch das Gute zu
leicht vergessen. Wer hat z.B. 7 Millionen
Arbeitslose in Brot gebracht, Reichsautobahnen
gebaut, dem Meer viele Ländereien abgewonnen.

Die N.S.V. (Anmerkung d. Websitebetreibers:
N.S.V = Nationalsozialistische Volkswohlfahrt
),
um gebrechlichen armen
Menschen zu helfen, den Reichsarbeitsdienst ge-
schaffen, um junge verwahrlose Menschen
Ordnung und Disziplin beizubringen. Den Krieg
hat das Volk bestimmt nicht gewollt und wenn
die Kriegsindustrie ihn gewollt haben mag,
dann lag es bei der Generalität als Berufs-
soldaten, die Consequenzen zu ziehen, denn
diese hätten im Falle eines Sieges auch die
Lorbeeren für sich beansprucht. Auch das Wort
'Liebet Eure Feinde' wird von der großen Masse falsch
verstanden, es müßte heißen, vergebt den Feinden,
aber vergiß nicht, daß Du ein Deutscher bist!
Anstatt sich den Feinden seitens vieler Mädchen
und Frauen hinzugeben, sollten diese lieber arbeiten
und mithelfen, den Schaden wieder wett zu machen,
und durch Standhaftigkeit und Sitte sich zur
hohen Macht zu bekennen. Ist Kuno B. der
G...er Bürgermeister, mein Schulfreund oder
ist es sein Sohn? Nach den Wahlen wird es sich
zeigen, ob der Misthaufen derselbe geblieben
und die Fliegen andere sind. Man soll nicht
eher schmutziges Wasser ausgießen, bevor man reines
wieder hat. Von meinem Schwiegersohn habe ich
noch nichts wieder gehört und von R... und Familie
auch nichts. H... hat es sehr schwer auf der
Schule, muß in 1 1/2 Jahren dasselbe nachholen, was für
2 1/2 Jahre vorgesehen war, dabei treibt sie noch
Handballsport um dünner zu werden - aber
sie wird immer proportionierter. Auch H... muß
über Künstler des Altertums, Bildhauer, Maler pp.
nach Besichtigung von Denkmälern pp. Aufsätze
verfassen. Vor 5 Wochen habe mir den rechten
Augenzahn ziehen lassen und gestern den Gegen-
zahn im Unterkiefer. Für den Augenzahn habe

in der Prothese Ersatz erhalten. In 4 Wochen erhalte
ich den 2. Zahnersatz. Meine Backe war plötzlich
Freitag Nacht stark geschwollen, sodaß ich den
Mund kaum öffnen konnte. Heute kann ich schon
wieder essen, hatte ein großes Geschwür an der
Wurzel, ohne vorher Schmerzen zu haben - habe
vielleicht bei der vielen Arbeit die Schmerzen ver-
gessen gehabt. Habe sonst gutes Heilfleisch.
Mein Herzdiagramm war sehr günstig. Ich hatte
reichlich rote Wurzeln und Breitlauch vom Lande
geholt und hat T... im Backofen gedorrt - alles
f.d. Winter. Außer 30 Stück Birnen haben wir kein
Obst einwecken können, da ich gerade zur Ernte
schwer liegen mußte. Allerdings Rhababer und
jetzt wird noch 50-40 Pfund Kürbis eingemacht.
1 Kaninchen haben wir gegessen. Das 2. alte kommt
Weihnachten auf den Tisch und drei jüngere
im Frühjahr. Dörrgemüse schmeckt sehr gut.
Hast Du auch solches oder darf ich Dir etwas schicken
sobald der Postverkehr freigegeben ist?
Bei den kürzlichen Landwahlen haben die CDU
'Christlich Demokratische Union' die meisten Stimmen
erhalten - die Katholiken haben durch die
Pfarrer, die auf dem Lande mehr zu sagen haben
wie die Bürgermeister, gut vorgearbeitet.
Ich werde nicht wählen, denn ich möchte mich
nicht noch einmal irren. Wer gewählt werden
will, muß beweisen, daß er es besser machen
kann. Nun muß ich schließen, da sonst der
Brief zu schwer wird. Ich wünsche Dir gute
Gesundheit, daß Du uns noch recht lange erhalten
bleibst. Denke nicht, ich wäre ein Kirchgänger
geworden, der Glaube im Herzen soll die Seele
unsterblich machen. Für heute verbleibe ich
mit den herzl. Grüßen auch von Frau und
Kindern Dein Sohn E... .

© Horst Decker